Stürmt das Schloss!

Stürmt das Schloss! – Eine unheim­liche Wiederkehr

Für den Archi­tek­tur­kri­tiker Dieter Hoffmann-​Axthelm war die Wieder­auf­er­stehung des „für das Über-​Ich dieser Stadt unersetz­lichen Schlosses“ notwendig, um die histo­ri­schen Katastrophen des 20. Jahrhun­derts hinter sich zu lassen. In dieser Auffassung, wie auch im Bau des Berliner Stadt­schlosses, ist ein Unbewusstes am Wirken, das in der Inter­vention Stürmt das Schloss! perfor­mativ hervor­geholt und durch­ge­ar­beitet wird. Denn wenn Hoffmann-​Axthelm behauptet, dass die Aufer­stehung „des eigenen Willens“ sich erst in der Unter­wer­fungs­ar­chi­tektur des Schlosses reali­sieren kann, verdrängt er andere Formen der Handlungs­macht: vor allem die der Revolutionär:innen des November 1918, deren „eigener Wille“ es war, das Schloss zu stürmen und in ihren Räten kurzzeitig eine andere demokra­tische Gesell­schaft zu realisieren. 

Von diesem Ereignis geht die Arbeit Stürmt das Schloss! aus: In einer Art traum­lo­gi­schen Reenactment der Besetzung des Schlosses wird das Publikum einge­laden, das Schloss zu stürmen. Anders als die Stürmung des Peters­burger Winter­palais, die durch ihr Reenactment zum histo­ri­schen Ereignis wurde, blieb dies dem Berliner Stadt­schloss bisher versagt. Mit dem Wieder­aufbau ist nun endlich eine Kulisse geschaffen worden, diesen verwor­fenen histo­ri­schen Moment kollektiv zu erinnern, dabei am und im Gebäude wieder sichtbar zu machen und aus kriti­scher Distanz zu untersuchen. 

Gleichsam als Negativ soll das Traktat Das Berliner Schloss in den Revolu­ti­ons­tagen 1918 des letzten Biblio­thekars des Kaisers, Dr. Bogdan Krieger dienen. Ein Text, in dem der Autor mit unver­hoh­lenem Antise­mi­tismus die aus seiner Sicht grotesken Bilder einer Umkehrung der Verhält­nisse zeichnet – wenn etwa die Revolu­tionäre angeblich mit ihren kotigen Stiefeln die zerstreute Garderobe der gestürzten Herrscher­fa­milie beschmutzen und rote Wollbett­wäsche wie Fahnen aus den Fenstern hängen. Krieger artiku­liert so die Angst vor der vermeintlich formlosen Masse, die Klaus Theweleit im Kapitel Die rote Flut seiner Männer­phan­tasien als zentral für die faschis­tische Subjek­ti­vierung analy­siert. Unsere Inter­vention begreift diese Angst als eine Trieb­kraft für das Wieder­erstehen des Schlosses und schlägt eine andere Perspektive vor.

Stürmt das Schloss! reali­siert sich als Hörstück, in dem das Publikum mit Kopfhörern ausge­stattet mit dem Schloss verbundene histo­rische Momente perfor­mativ durch­ar­beitet; Momente, die nicht immer unmit­telbar sichtbar sind, wie die kolonialen Kriege, in denen die Deutschen gegen die ebenfalls als formlose Massen phanta­sierten Menschen in den Kolonien gewaltsam vorgingen; Momente auch, die nahezu vergessen sind, wie die Eröffnung des Palastes der Republik oder die Liege­wiese, die für ein paar Jahre dazu einlud, im Nichtstun dem Zwang zur Reprä­sen­tation zu entkommen. Das Stück soll als App verbreitet werden, durch die die Teilneh­menden auf die Inter­vention vorzu­be­reitet werden, um dann vielstimmig, aber synchro­ni­siert zu handeln. 


LIGNA besteht aus den Medien- und Performance-​Künstlern Ole FrahmMichael Hueners und Torsten Michaelsen. In Shows, urbanen Inter­ven­tionen und perfor­ma­tiven Instal­la­tionen erfor­schen sie seit 2002 die Handlungs­mög­lich­keiten sich zerstreut und temporär assozi­ie­render Kollektive. Dabei entwi­ckeln sie unter­schied­liche Modelle des Medien­ge­brauchs: Das ‚Radio Ballett‘ lädt die Teilneh­me­rInnen ein, in ehemals öffent­lichen, inzwi­schen priva­ti­sierten und kontrol­lierten Orten wie Haupt­bahn­höfen oder Shopping Malls, einer Choreo­graphie von verbo­tenen und ausge­schlos­senen Gesten zu folgen. Das Publikum wird dabei zu einem Kollektiv von Produ­zen­tInnen. Es entsteht eine Assoziation, die unvor­her­sehbare, unkon­trol­lierbare Effekte hervor­bringt, welche die Ordnung des Raumes heraus­fordern. In Theater­stücken wie ‚Der Neue Mensch‘ oder ‚Ödipus‘ wird das Publikum dazu aufge­fordert, sich den Bühnenraum in einer vielschich­tigen gesti­schen Inter­aktion anzueignen und das Theater als Ort der Reprä­sen­tation in Frage zu stellen. Aktuellere Arbeiten wie ‚Die große Verwei­gerung‘ oder ‚Rausch und Zorn‘ laden die Teilneh­me­rInnen zu einem komplexen Spiel ein, dessen Regeln sich erst allmählich enthüllen. Ihre Arbeiten wurden mehrfach mit inter­na­tio­nalen Preisen ausgezeichnet.


Storm the castle!

Storm the castle! — An uncanny return

For the archi­tecture critic Dieter Hoffmann-​Axthelm, the resur­rection of the ‘castle, which is irreplaceable for the superego of this city’ was necessary in order to leave the histo­rical catastrophes of the20th century behind. century behind it. In this view, as in the construction of the Berlin City Palace, there is an uncon­scious at work that is brought out and worked through perfor­ma­tively in the inter­vention Stürmt das Schloss! For when Hoffmann-​Axthelm claims that the resur­rection of ‘one’s own will’ can only be realised in the subju­gating archi­tecture of the palace, he suppresses other forms of agency: above all that of the revolu­tio­naries of November 1918, whose ‘own will’ was to storm the palace and realise a different democratic society in their councils for a short time.

In a kind of dreamlike re-​enactment of the occupation of the palace, the public is invited to storm the palace. Unlike the storming of St Petersburg’s Winter Palace, which became a histo­rical event through its re-​enactment, the Berlin City Palace has so far been denied this oppor­tunity. With the recon­s­truction, a backdrop has finally been created to collec­tively remember this rejected histo­rical moment, to make it visible again on and in the building and to examine it from a critical distance.

The treatise Das Berliner Schloss in den Revolu­ti­ons­tagen 1918 by the Emperor’s last librarian, Dr Bogdan Krieger, is intended to serve as a kind of negative. It is a text in which the author, with undis­guised anti-​Semitism, draws what he sees as grotesque images of a reversal of circum­s­tances — for example, when the revolu­tio­naries allegedly soil the scattered wardrobe of the overthrown ruling family with their kotty boots and hang red woollen bed linen from the windows like flags. Krieger thus articu­lates the fear of the suppo­sedly formless masses that Klaus Theweleit analyses as central to fascist subjec­ti­vation in the chapter Die rote Flut(The Red Tide) of his Männer­pha­natsien (Male Fantasies). Our inter­vention under­stands this fear as a driving force for the resur­rection of the castle and proposes a different perspective.

Stürmt das Schloss! is realised as an audio piece in which the audience, equipped with headphones, perfor­ma­tively works through histo­rical moments associated with the palace; moments that are not always immediately visible, such as the colonial wars, in which the Germans took violent action against the people in the colonies, who were also fanta­sised as formless masses; moments that are also almost forgotten, such as the opening of the Palace of the Republic or the sunbathing lawn, which for a few years invited people to escape the compulsion to represent themselves by doing nothing. The piece is to be distri­buted as an app that prepares the parti­ci­pants for the inter­vention so that they can then act in a polyphonic but synchro­nised manner.


LIGNA is made up of the media and perfor­mance artists Ole FrahmMichael Hueners and Torsten Michaelsen. In shows, urban inter­ven­tions and perfor­mative instal­la­tions, they have been exploring the possi­bi­lities for action of dispersed and tempo­r­arily associating collec­tives since 2002. In doing so, they develop different models of media use: The ‚Radio Ballet‘ invites parti­ci­pants to follow a choreo­graphy of forbidden and excluded gestures in formerly public, now priva­tized and controlled places such as central stations or shopping malls. The audience becomes a collective of producers. The result is an association that produces unpre­dic­table, uncon­trollable effects that challenge the order of the space. In plays such as ‚Der Neue Mensch‘ or ‚Oedipus‘, the audience is invited to appro­priate the stage space in a multi-​layered gestural inter­action and to question the theater as a place of repre­sen­tation. More recent works such as ‚Die große Verwei­gerung‘ or ‚Rausch und Zorn‘ invite the parti­ci­pants to take part in a complex game whose rules are only gradually revealed. Her works have been awarded several inter­na­tional prizes.

— 7. Oktober 2024

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