Schwärme

Jedes Schloss, das etwas von sich hält, sollte ein eigenes Gespenst haben, und im Humboldt-​Forum spukt es kaum. Eine fried­liche Drohnen-​Armee soll als Quasimodo oder als Gespenst im Stadt­schloss auftauchen und es sich aneignen.

Archi­tektur ist ein träges Medium. Die aktuelle Substanz des Stadt­schlosses stellt ein Bruchteil dessen dar, was sich an Infor­mation im Laufe der Zeit an diesem Ort angesammelt hat. Sie ist immer noch präsent und mittels Raumko­or­di­naten erfassbar. 

Diese Aufgabe übernehmen die Drohnen. Sie werden wie Staub an den virtu­ellen Umrissen haften bleiben und die Schichten der vielen Geschichten offen­baren, die in diesem Ort statt­ge­funden haben. Die Drohnen bilden ein Schwarm, eine flüchtige Wolke, die den Geist der Zeit viele Formen geben kann. Sie bilden ein Gegensatz zum soliden Gebäude: sie sind leicht, schweben und bewegen sich schnell, gemeinsam sind sie unscharf, aber auch präzise, sie sind an- und abwesend zugleich, sie sind lebendig aber offen­baren dabei das längst Vergangene. Tagsüber sind sie dunkel wie Vögel, nachts leuchten sie wie Glühwürmer. Sie erscheinen kurz und verschwinden wieder, unange­meldet. Niemand weiß genau, wann oder wo es wieder um das Humboldt-​Forum spuken wird.

Als Rückzugsort des Drohnen­schwarms bietet sich das Dach des Flügels zwischen Schloss-​Passage und Schlü­tershof an, da dessen Innen­fassade Ost von F. Stella ungefähr an der gleichen Stelle steht wie die damalige goldene Spiegel­fassade West vom Palast der Republik. 

Auswahl möglicher Spuk-​Choreografien der Drohnen (in chrono­lo­gi­scher Reihen­folge der nachge­bil­deten Ereignisse): 

- Palast der Königin der Nacht: Schinkels Zauberflöten-​Inszenierung über die Schlosskuppel/​Portal III

- Alter­na­tivlos durch die Nacht: Rekon­struktion verschie­dener Fackelzüge im 19. und 20. Jahrhundert vor den Lustgarten‑, Schlossfreiheit- und Schlossplatzfassaden 

- Marinus Irrweg: M. van der Lübbes Brand­stif­tungs­versuch des Schlosses im Jahr 1933

- Lichterloh: Nachbildung der (tagelang) brennenden Fenster im Februar 1945 

- Staub zu Staub: Nachbildung der Staub­wolken bei der Sprengung von Sept 1950

- Von Schlüters Hof zu Erichs Laden: Nachbildung der Leuch­ten­decke des Foyers des Palastes der Republik in ihrer ursprüng­lichen Lage (siehe Keyvisual)

- Attrappe: Nachbildung wie das Schloss-​Gerüst von 1993, diesmal der überschnei­denden Kubatur des Palastes der Republik an das Humboldt-Forum

- Zweifel: aus den 7 Dachträgern des ehema­ligen Palastes der Republik bilden sich die 7 Buchstaben des Schriftzugs der provi­so­ri­schen Instal­lation von Jan bis Mai 2005

- etc.

Selbst­ver­ständlich muss man für eine solche technische Einrichtung eine perma­nente Fluger­laubnis über das Stadt­schloss haben. Oder muss man etwa die Erlaubnis nicht haben?


Jaime Salazar Rückauer (*1964 in Bilbao, Spanien) studierte Archi­tektur in Barcelona. Zwischen 1991 und 1999 arbeitete er als Redakteur der Zeitschrift Quaderns der Archi­tek­ten­kammer Katalo­niens und wurde später Mither­aus­geber des Design‑, Kunst- und Archi­tek­tur­verlags Actar zwischen 1996 und 2002, wo er u.a. das ‚Verb‘ boogazine (2000), ‚Single Family Housing, The Private Domain‘ (1999) und ‚MVRDV at VPRO‘(1998) veröf­fent­lichte. In 2007 und 2010 gestaltete er die Ausstel­lungen ‚Patente Lösungen‘ und ‚Deutsche Archi­tektur in Argen­tinien‘ für das Deutsche Archi­tek­tur­museum in Frankfurt am Main. Seit 2002 lebt er in Bochum und hat in verschie­denen Archi­tek­tur­büros im Ruhrgebiet und als Planer für ein Ingenieurbüro in der Überwa­chung der Rhein­brücken in Duisburg und Lever­kusen gearbeitet.
Seitdem er zufäl­li­ger­weise im Jahr 1993 während einer Arbeits­reise nach Berlin auf die Schloss-​Attrappe stieß hat er mit Interesse das Schicksal dieses Ortes verfolgt.


Swarms

Every palace that thinks something of itself should have its own ghost, and the Humboldt Forum is hardly haunted. A peaceful army of drones should appear as a Quasimodo or ghost in the City Palace and appro­priate it for themselves.

Archi­tecture is an inert medium. The current substance of the City Palace represents a fraction of the infor­mation that has accumu­lated in this place over the course of time. It is still present and can be captured using spatial coordinates.

This is the task of the drones. They will stick to the virtual outlines like dust and reveal the layers of the many stories that have taken place in this place. The drones form a swarm, a fleeting cloud that can give many forms to the spirit of time. They form a contrast to the solid building: they are light, float and move quickly, together they are blurred but also precise, they are present and absent at the same time, they are alive but reveal the long past. During the day they are dark like birds, at night they glow like glowworms. They appear briefly and disappear again, unannounced. Nobody knows exactly when or where the Humboldt Forum will be haunted again.

The roof of the wing between the Schloss-​Passage and Schlü­terhof is an ideal retreat for the swarm of drones, as its east façade by F. Stella stands in roughly the same place as the former golden mirrored west façade of the Palace of the Republic. 

Selection of possible haunted choreo­gra­phies of the drones (in chrono­lo­gical order of the recreated events):

Palace of the Queen of the Night: Schinkel’s Magic Flute production over the palace dome/​portal III

No alter­native through the night: recon­s­truction of various torch­light proces­sions in the 19th and 20th centuries in front of the pleasure gardens. and 20th centuries in front of the Lustgarten, Schloss­freiheit and Schloss­platz façades

- Marinus Irrweg: M. van der Lübbe’s attempted arson of the palace in 1933

- Lichterloh: replica of the windows burning (for days) in February 1945

Staub zu Staub: replica of the clouds of dust from the blast in September 1950

Von Schlüters Hof zu Erichs Laden: Replica of the illumi­nated ceiling of the foyer of the Palace of the Republic in its original position (see key visual)

Atrappe: replica like the palace scaffolding from 1993, this time of the overlapping cubature of the Palace of the Republic to the Humboldt Forum

- Zwiefel: the 7 letters of the lettering of the temporary instal­lation from January to May 2005 are formed from the 7 roof beams of the former Palace of the Republic

- etc.

Of course, you have to have a permanent permit to fly over the City Palace for such a technical instal­lation. Or do you not have to have permission?


Jaime Salazar Rückauer (*1964 in Bilbao, Spain) studied archi­tecture in Barcelona. Between 1991 and 1999, he worked as editor of the magazine ‘Quaderns’ of the Archi­tects’ Association of Catalonia and later became co-​editor of the design, art and archi­tecture publi­shing house Actar between 1996 and 2002, where he published the ‘Verb’ boogazine (2000), ‘Single Family Housing. The Private Domain’ (1999) and ‘MVRDV at VPRO’ (1998). In 2007 and 2010, he designed the exhibi­tions ‘Patente Lösungen’ (Patent solutions) and ‘Deutsche Archi­tektur in Argen­tinien’ (German Archi­tecture in Argentina) for the German Archi­tecture Museum in Frankfurt am Main. He has lived in Bochum since 2002 and has worked in various archi­tec­tural offices in the Ruhr region and as a planner for an engineering office in the super­vision of the Rhine bridges in Duisburg and Lever­kusen.
He has been following the fate of the fake castle with interest ever since he came across it by chance during a working trip to Berlin in 1993.

— 7. Oktober 2024

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