House of Untold Stories

Mein Vater begann seine Flucht aus der DDR im Palast der Republik.

Im Keller des Palastes gab es ein Münzte­lefon, das in den Westen verband. Es war ein sagen­um­wo­benes Telefon, von dem er in Gerüchten gehört hatte. Er wartete auf einen obrigs­keits­gül­tigen Grund sich in Berlin aufhalten zu können, ging 1988 in den Palast, rief seine Westver­wandt­schaft an und arran­gierte ein Treffen, und stieg bald darauf in einen Zug um nie wieder zu kehren.

Wir verblieben im Osten und verloren den Vater.

Seine Flucht mithilfe des Palastes ist eine der vielen unter­er­zählten Geschichten des Ortes.

Das wider­sinnige Telefon, eines der vielen mythi­schen und unerklär­lichen Objekte in Verbindung mit diesem Ort.

Mitsamt der Koloni­al­beute in den Archiven, der ubiqui­tären Gewalt, der verstummten Bedeutungen. 

Der Apparat, wie ein einziges Wort, das einen Satz wider­sprüchlich macht, eine Sollbruch­stelle in der Eindeu­tigkeit eines Narrativs.

Ich schlage eine zeitba­sierte Inter­vention an der Fassade des ehema­ligen Lampen­ladens vor, die ebenfalls Licht benutzt, um die vielen unerzählten Geschichten und das Unver­standene an dem Ort aufzu­zeigen. Ein erzäh­lendes Unerzählen um das Narrativ des preus­si­schen Ruhms zu brechen.

In einer Projektion auf die Fenster werden Lampen proji­ziert, die rhyth­misch an und aus gehen. Es ist Morsecode, eine stille Form der Kommu­ni­kation, deren Sprechenden auch großteils in der Geschichte unter­ge­gangen sind. Die Betrach­tenden verstehen sicherlich, dass es Morsecode ist — dass da etwas gesagt, etwas erzählt wird. Vielleicht verstehen sie auch die Anspielung auf die Lampen. Aber der Inhalt der Geschichte bleibt ihnen sicherlich verborgen. Wer spricht? Was wird gesagt?

Die Projektion erzählt — in Morse — die Geschichte von meinem Vater, wie er nach Berlin kommt, auf der Suche nach dem Apparat und unsicher ist, ob es wirklich funktio­niert. Ob das Telefon existiert, ob er von den Staats­kräften gefasst wird.

Als ein Zeichen für all die anderen Geschichten, die sich nicht mehr erzählen lassen, weil ihnen die Objekte, Orte und Worte fehlen. Geschichte, die somit nicht mehr verstanden werden können.

Für Menschen, deren Flucht nicht geglückt ist und deswegen unerzählt bleibt. Für Menschen, deren Flucht geglückt aber nicht als richtig, heroisch oder innerhalb der deutschen Natio­nal­ge­schichte erzäh­lenswert gilt.

Das Haus erzählt die Geschichten, die wir nicht erzählen.

Die Projektion erfolgt über einen licht­starken Projektor von Außen auf einen Fassa­denteil während der dunklen Abend­stunden über einen festge­legten Zeitraum. Die Projektion kann an jedem Teil der Fassade reali­siert werden. Erste Wahl wäre jedoch der Gebäu­deteil im Westen, um eine Reduzierung auf das Bedeu­tungsfeld Palast der Republik zu umgehen und eine Nähe zu den ethno­lo­gi­schen Sammlungen herzu­stellen. Möglich wäre eine mobile Projektion von einem gesicherten Rollwagen.

Die Projektion kann, da mobil und schlichtweg ein Video, in verschie­denen Positionen verschiedene Lampen­in­stal­la­tionen darstellen. Es können auch mehr Geschichten als die meines Vaters in Morse erzählt werden.


Linda Haven­stein (*1984 in Weimar) ist eine inter­dis­zi­plinär arbei­tende Künst­lerin und Forscherin, wohnhaft in Berlin. Sie studierte Japano­logie, Kompa­ra­tistik und Journa­listik in Deutschland und Japan. Ihr künst­le­ri­sches Schaffen befasst sich mit der Beziehung zwischen Menschen und Techno­logie und den kultu­rellen Auswir­kungen des postdi­gi­talen Zeitalters, sowie mit Sprache, Zeichen und Symbole, und deren Auswir­kungen auf Reali­täts­wahr­nehmung. Ein wesent­licher Aspekt ihrer Arbeit ist der Einsatz von Codes und Verschlüs­se­lungen, um die Bedeutung von Nachrichten und Bildern zu verändern und neue Inter­pre­ta­tionen durch Dekodierung zu schaffen. Auch ihre Sozia­li­sation in Ostdeutschland prägte ihre Perspek­tiven, insbe­sondere ihre Ausein­an­der­setzung mit Sprache und Kodifi­zierung. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausge­stellt, u.a. im HOW Museum of Art, der Bangkok Biennale, Haus der Kulturen der Welt Berlin. Förde­rungen, Preise und Stipendien u.a.: Kunst­fonds, Museum of Modern and Contem­porary Art Korea, Lumen Digital Art Award. 

Webseite: linda​ha​ven​stein​.com


House of Untold Stories

My father began his escape from the GDR in the Palace of the Republic.

There was a payphone in the basement of the palace that connected to the West. It was a legendary telephone that he had heard rumours about. He waited for an official reason to be able to stay in Berlin, went to the palace in 1988, phoned his relatives in the West and arranged a meeting, and soon after­wards boarded a train, never to return.

We stayed in the East and lost our father.

His escape with the help of the palace is one of the many under-​told stories of the place. The absurd telephone, one of the many mythical and inexpli­cable objects associated with this place*. 

Along with the colonial spoils in the archives, the ubiquitous violence, the silenced meanings. The apparatus, like a single word that makes a sentence contra­dictory, a breaking point in the unambi­guity of a narrative.

I propose a time-​based inter­vention on the façade of the former lamp shop that also uses light to reveal the many untold stories and the misun­derstood in the place. A narrative untold to break the narrative of Prussian glory.

In a projection on the windows, lamps are projected that switch on and off rhyth­mi­cally. It is Morse code, a silent form of commu­ni­cation whose speakers are also largely lost in history. The viewers certainly under­stand that it is Morse code — that something is being said, something is being told. Perhaps they also under­stand the allusion to the lamps. But the content of the story certainly remains hidden from them. Who is speaking? What is being said?

The projection tells — in Morse — the story of my father, how he comes to Berlin in search of the phone and is unsure whether it really works. Whether the phone exists, whether he will be caught by the state forces.

As a sign of all the other stories that can no longer be told because they lack objects, places and words. Stories that can no longer be understood.

For people whose escape was unsuc­cessful and therefore remains untold. For people whose escape was successful but is not considered right, heroic or worth telling within German national history.

The house tells the stories that we do not tell.

The projection takes place via a powerful projector from outside onto a part of the façade during the dark evening hours over a set period of time. The projection can be realised on any part of the façade. However, the first choice would be the part of the building to the west, in order to avoid reducing the projection to the Palace of the Republic and to create proximity to the ethno­lo­gical collec­tions. A mobile projection from a secured trolley would be possible.

As it is mobile and simply a video, the projection can display various lamp instal­la­tions in different positions. It can also tell more stories than that of my father in Morse.


Linda Haven­stein (*1984 in Weimar) is an inter­di­sci­plinary artist and researcher based in Berlin. She studied Japanese Studies, Compa­rative Literature and Journalism in Germany and Japan. Her artistic work deals with the relati­onship between people and technology and the cultural effects of the post-​digital age, as well as with language, signs and symbols and their effects on the perception of reality. An essential aspect of her work is the use of codes and encryption to change the meaning of messages and images and to create new inter­pre­ta­tions through decoding. Her socia­lization in East Germany also shaped her perspec­tives, parti­cu­larly her engagement with language and codifi­cation. Her work has been exhibited many times, including at the HOW Museum of Art, the Bangkok Biennale and Haus der Kulturen der Welt Berlin. Grants, prizes and scholar­ships include Kunst­fonds, Museum of Modern and Contem­porary Art Korea, Lumen Digital Art Award. 

Webseite: linda​ha​ven​stein​.com

— 7. Oktober 2024

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